Was ist Achtsamkeit?

Der Begriff der “Achtsamkeit” ist in der Umgangssprache angekommen und wird meist im Sinne von “vorsichtig, umsichtig und behutsam” gebraucht.

Auch im Bereich von Medizin, Psychologie und Psychotherapie, aber auch in der Schule, der Wirtschaft und in anderen Bereichen hat die Achtsamkeit inzwischen ihren Platz. Dort wird “Achtsamkeit” mit unterschiedlichen Bedeutungen besetzt. Eine Arbeitsdefinition  lautet:

Achtsamkeit ist beabsichtigte Lenkung der Aufmerksamkeit auf die Gegenwart d.h. auf den aktuellen Moment, auf die gegenwärtige Erfahrung. Achtsamkeit bedeutet das bewusste Beobachten, wobei die Beobachtung aus einer bestimmten Haltung heraus erfolgt.

Diese Haltung ist

  • wohlwollend, akzeptierend,
  • nicht urteilend oder wertend,
  • nicht einteilend oder kategorisierend,
  • nicht identifiziert mit dem Objekt der Beobachtung, jedoch unmittelbar an der Erfahrung teilhabend,
  • unvoreingenommen, offen,
  • die Welt wie mit den Augen eines Kindes betrachtend („Anfängergeist“).

Entscheidend ist dabei die Bewusstheit über den Prozess des Beobachtens selbst, ein Gewahrsein, des gewahr Seins, unabhängig von den beobachteten Objekten, unabhängig davon, ob die Aufmerksamkeit fokussiert oder offen oder ihr der Fokus weit oder eng ist. Bildlich gesprochen ist das „Erwachen des inneren Beobachters“ das Essentielle der Achtsamkeit.


Auf der Suche nach Definitionen von Achtsamkeit fanden Nilsson & Kazemi (2016) in einer Literaturrecherche im englischsprachigen Raum insgesamt 33 Definitionen.

In diesen Definitionen werden fünf einander überlappende Kernelemente beschrieben:

The Big Five of Mindfulness (nach Nilsson & Kazemi 2016)

Achtsamkeit in Worte fassen zu wollen, ähnelt dem Versuch, jemandem zu erklären, wie eine Mango schmeckt. Um deren Geschmack wirklich zu erfassen, muss man sie wohl selbst probieren. Insofern sei InteressentInnen geraten, eigene Erfahrungen mit einfachen Achtsamkeitsübungen zu sammeln, entweder für sich alleine, in der Gruppe oder unter fachkundiger Anleitung.

Um die Achtsamkeit und ihre Auswirkungen zu erforschen gibt es trotz dieser Einschränkungen viele Versuche gemacht, sie zu erfassen und zu messen. Einer der Selbsteinschätzungsfragebögen (Bergomi et al 2014) erhebt acht Dimensionen und enthält beispielsweise folgende Aussagen, bei denen man sich selbst beantworten kann, inwieweit sie für die letzten zwei Wochen zutreffen (fast nie, selten, eher selten, eher häufig, häufig, fast immer):

  1. Ich nehme Veränderungen in meinem Körper deutlich wahr, z.B. schnelleres oder langsameres Atmen. Wenn ich mit anderen Personen spreche, nehme ich wahr, welche Gefühle ich dabei erlebe. (Gewahrsein gegenüber inneren Erfahrungen)
  2. Wenn ich Auto oder Zug fahre, bin ich mir meiner Umgebung, z.B. der Landschaft, bewusst. Ich nehme Geräusche in meiner Umgebung, wie z.B. zwitschernde Vögel oder vorbeifahrende Autos, bewusst wahr.(Gewahrsein gegenüber äusseren Erfahrungen)
  3. Beim Lesen muss ich Abschnitte wiederholt lesen, weil ich an etwas anderes gedacht habe (invers). Ich zerbreche oder verschütte Dinge aus Unachtsamkeit oder weil ich an anderes denke (invers).(Bewusstes Handeln, Gegenwärtigkeit)
  4. Im Auf und Ab des Lebens bin ich mir gegenüber warmherzig. Ich sehe meine Fehler und Schwierigkeiten, ohne mich zu verurteilen.(Annehmende, nicht-urteilende, mitfühlende Haltung)
  5. In schwierigen Situationen kann ich einen Moment innehalten, ohne sofort zu reagieren. Wenn ich belastende Gedanken oder Vorstellungen habe, kann ich sie einfach bemerken, ohne gleich auf sie zu reagieren.(Nicht-reaktive, dezentrierte Orientierung)
  6. Ich mag es nicht, wenn ich ärgerlich oder ängstlich bin und versuche, solche Gefühle beiseite zu schieben (invers). Ich versuche mich abzulenken, wenn ich unangenehme Gefühle erlebe (invers). (Offene, nichtvermeidende Haltung)
  7. Mir ist im Alltag bewusst, dass meine Sicht der Dinge subjektiv ist und den Tatsachen nicht entsprechen muss. Es ist mir im Alltag bewusst, dass sich eigene Meinungen, die ich zur Zeit sehr ernst nehme, deutlich verändern können.(Relativierung)
  8. Ich bemerke im Alltag, wenn eine bestimmte Situation erst durch meine negative Einstellung ihr gegenüber schwieriger wird. Wenn ich mir unnötig das Leben schwer mache, wird mir das bald danach klar. (Einsichtsvolles Verstehen).

Bei der Beantwortung der Fragen wird vielleicht eine der Schwierigkeiten der Selbsteinschätzung der Achtsamkeit klar: Es braucht ein gewisses Maß an Achtsamkeit, um überhaupt zu bemerken, dass man im Moment achtsam oder eben unachtsam ist bzw. gerade unachtsam war. So ergibt sich die Paradoxie, dass sich Menschen mit längerer Achtsamkeitspraxis oft als weniger achtsam einschätzen als Ungeübte.

Es wird vielleicht auch deutlich, dass man unterscheiden muss, ob man die einzelnen Qualitäten der Achtsamkeit zu einem bestimmten Zeitpunkt erfasst und damit einen Zustand der Achtsamkeit beschreibt, in dem man sich mehr oder weniger befinden kann, oder eine überdauernde, relativ stabile Fähigkeit und Art des In-der-Welt-Seins. Beides hängt insofern zusammen, als diese Fähigkeiten immer leichter, selbstverständlicher und verlässlicher zur Verfügung stehen, je häufiger und langfristiger man etwa im Rahmen einer Achtsamkeitspraxis Zustände von Achtsamkeit einnimmt und einübt.

  1. Durch die absichtsvolle Steuerung der Aufmerksamkeit (attention) in Bezug auf die Objekte und ihre Qualität entsteht ein Gewahrsein (awareness) des gegenwärtige Erlebens.
  2. Der Fokus der Aufmerksamkeit liegt auf der Gegenwart, darauf, wie sich die Erfahrungen von Moment zu Moment entfalten.
  3. Diese sich von Augenblick zu Augenblick verändernden Erfahrungen können Gefühle und Gedanken sein, aus dem Spüren und Empfinden des Körpers stammen oder aus den fünf Sinnen: dem Sehen, dem Hören, dem Tasten, dem Riechen und dem Schmecken.
  4. Die Achtsamkeitspraxis stellt einen Übungsweg dar, auf dem bestimmte Fähigkeiten kultiviert werden. Das können Einsichten sein und Qualitäten wie Ruhe, Gleichmut, Liebende Güte und Mitgefühl. Auf diesem Pfad können aus kulturübergreifender Perspektive verschiedene Stadien des Bewusstseins unterschieden werden.
  5. Die ethische bzw. soziale Dimension der Achtsamkeit manifestiert sich in der Haltung, mit der man den Erfahrungen begegnet wie Offenheit, Akzeptanz und Neugier. Manche Definitionen betonen das Seinlassen, die Nicht-Reaktivität, das Fehlen von Beurteilungen und Bewertungen auch bei unangenehmen Erfahrungen. Als prosoziale Komponenten finden sich Freundlichkeit, Wohlwollen, Güte, Toleranz und Mitgefühl. Die ethische Dimension wird insbesondere bei jenem Verständnis der Achtsamkeit betont, das sich auf seine Wurzeln in den buddhistischen Traditionen bezieht.

Achtsamkeit ist ein Akt der Gastfreundschaft. – Ein Weg zu lernen, uns selbst mit einer fürsorglichen Güte zu behandeln, die dann langsam in die tiefsten Tiefen unseres Seins durchzusickern beginnt, während sie uns nach und nach die Möglichkeit eröffnet, zu anderen in derselben Weise in Beziehung zu treten. … [Der] Prozess verlangt von uns, dass wir die Möglichkeit in Erwägung ziehen, uns selbst ungeachtet dessen, was wir fühlen oder denken, Gastfreundschaft zu erweisen. Dies hat nichts damit zu tun, unfreundliche oder nicht wünschenswerte Handlungen abzuleugnen oder uns dafür zu rechtfertigen. Doch es hat sehr viel damit zu tun, uns selbst in der Konfrontation mit den rauen, dunklen, schwierigen oder unausgegorenen Aspekten unseres Lebens mit Mitgefühl zu begegnen.

Saki Santorelli (2010) Practice: Befriending Self. mindful (Übersetzung durch den Autor der Website)
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